VON OM C. PARKIN, FRüHJAHR 2002
Quelle: Auszug aus: advaitaJournal Vol. 6 , Frühjahr/Sommer 2002, Seite 18ff., zu beziehen über www.spirituelle-buchhandlung.de
...die Imitation des heiligen Narren im Spiegel des Enneagramms.
Warum Täler durchwandern, wenn ich zum nächsten Gipfel überspringen kann?
Wozu noch leiden, wenn ich (in Gedanken) schon glücklich bin?
Warum noch das Mühsal eines steinigen Weges auf sich nehmen, wenn das Ziel (in Gedanken) schon erreicht ist?
Wozu noch Realität leben, wenn ich (in Gedanken) alles schon gelebt habe?
Dies sind wesentliche Fragen, die von einem Ich gestellt werden, das an Punkt Sieben des Enneagramms fixiert ist (Ennea-Typ 7). Das Enneagramm der Charakterfixierungen beschreibt an diesem Punkt die Landkarte eines Ichs, dass sich die Maske des Narren aufsetzt, um so den Archetyp des heiligen Narren (s. Diagramm) nachzuahmen. Es ist dies eine von neun verschiedenen im Enneagramm der Charakterfixierungen gezeigten Strategien, die das Ego-Ich verfolgt, um den tief innen empfundenen Seins-Mangel, sowie die damit verbundene innere Öde zu kompensieren und nicht zu fühlen.
Der Ennea-Typ 7 steht für eines der drei angstdominierten Ich-Konzepte (Punkte 5,6 und 7). Im Enneagramm spricht man von Angstfixierungen. Angst wird in den Lehren des Enneagramms als eine der drei grundlegenden emotionalen Reaktionen des Ichs auf seinen Verlust der göttlichen Einheit genannt (Die beiden anderen sind Zorn und unerfüllte Liebe.).
So sieht sich der Ennea-Typ 7 schon zu Beginn seiner Geschichte einer tiefen Existenzangst gegenüber, die ein wesentlicher Teil seiner Identität zu sein scheint. Während die anderen Angstfixierungen versuchen, den Helden zu spielen (Punkt 6), oder der Angst durch Versteckspiel und Rückzug in theoretisches Wissen und Analysen zu entkommen (Punkt 5), geschieht in der Sieben der Versuch der Zerstreuung von Angst, indem sie sich in die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Phantasie flüchtet, und verflüchtigt. In dem Buch von Helen Palmer: "Das Enneagramm"¹ beschreibt ein Selbsterforscher diese Aufmerksamkeitsverlagerung, wie er sie in der Kindheit erlernte:
Dann erinnerte ich mich an einen Tag, an dem ich mich auf dem Rückweg von einer neuen Schule verirrte und wusste, dass meine Mutter mich für mein Zuspätkommen bestrafen würde. Ich hatte schreckliche Angst, was geschehen würde, wenn sie mich in die Finger kriegen würde. Dann traf ich ein paar Kinder, die Fußball spielten, und ich spielte einfach mit, bis es dunkel wurde. Als die Zeit des Abendessens kam, rief Mutter die Polizei an, und sie kamen und holten mich ab. Ich erinnere mich, wie ich im Polizeiauto nach Hause fuhr, ich machte mir in die Hose vor Angst. Dann betrachtete ich die Lichter, die sich im Rückfenster spiegelten und ich erinnerte mich an das Fußballspiel, und war in Gedanken wieder bei ihm. Ich wusste, dass ich einfach in meinem Kopf bleiben und Fußball spielen konnte, egal, was sie mit mir machte, bis das Ganze vorüber wäre und ich es überstanden hätte.
In den Welten der Phantasie, die sich sowohl aus einer in dem Moment eingebildeten Vergangenheit (wie in dem Beispiel), oder auch aus einer eingebildeten Zukunft zusammensetzen können, sucht die Sieben danach, das in der Realität verloren geglaubte Glück, Freiheit und Leichtigkeit wiederzufinden. Federhafte Leichtigkeit ist eine der natürlichen Wesensmerkmale des heiligen Narren, als einen der neun göttlichen Archetypen des Enneagramms, die sich durch die menschliche Form offenbaren, wenn die Idee eines persönlichen Ichs gestorben ist (s. Diagramm 1). In einem Tarotdeck beispielsweise ist der Narr dargestellt, wie er, an einer hohen Felswand entlangtänzelnd, mit einem Bein über den Abgrund hinausschreitet, ohne zu fallen. Er scheint sich so leicht zu fühlen, dass er selbst in der Luft zu laufen vermag und keinen festen Boden unter den Füßen benötigt. Diese Leichtigkeit im Geiste des heiligen Narren ist der Zustand, in dem sich alle Sorgen aufgelöst haben, das Gewissen ent-lastet ist, alle geistigen Habseligkeiten abgeworfen worden sind, jegliche falsche Ich-Identität aufgelöst ist.
Menschliches Leiden ist Ausdruck der Schwere und Last der Identifikation mit einem Ich und seiner persönlichen Geschichte. Der heilige Narr befindet sich in einem "entgeisterten" Zustand geistiger Leere, so dass er nicht mehr den Ursache-Wirkgesetzen des denkenden Ichs unterliegt. Als Gesetzloser lebt durch ihn die absolute Narrenfreiheit. Die immer wieder auftretende Entgeisterung seiner Mitmenschen über sein Handeln und die Motive, die sie selbst in sein Handeln hineingelegt haben, scheint eine natürliche und wohl erwünschte Begebenheit zu sein, auch wenn sie von unwissenden Zeitgenossen nicht immer gebührend geschätzt wird. "Kopflos" und scheinbar ziellos wandert er umher, angeheitert vom menschlichen Kabinett der Eitelkeiten, belustigt über den Ernst und die Zwanghaftigkeit, mit der das Ich seine selbstgeschaffenen Regeln und Normen befolgt, glaubend, es seien göttliche. Er kennt weder Absichten, noch plant er die Ergebnisse seiner Handlungen im Voraus. Wie kein anderer Archetyp verkörpert er den göttlichen Spieler, der das Fest des Lebens feiert und dabei alle inneren Gäste willkommen heißt. Leichtigkeit und Schwere sind ihm einerlei, denn ohne innere Anhaftung lastet selbst die Schwermut nicht auf ihm. Er ist nur eine vorbeiziehende Wolke am Himmel, so wie alles andere auch. Das Leben des heiligen Narren ist das große Lachen, manchmal Schmunzeln über den kosmischen Witz der Wahrheit, den er erkannte, weil er bereit war, sich der vermeintlichen Bedrohlichkeit und finsteren Schwere seiner eigenen Abgründe zu stellen, sie zu absorbieren und zu durchdringen. Im Kern der inneren Schwere, im Zentrum des Zyklons fand er immer wieder nur "die Leichtigkeit der Leichtigkeit", die Leere selbst.
Sri Poonjaji erzählte einmal von einem Zen-Meister, der in den Himmel schaute, dort eine Wolke erblickte und sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten konnte. Alle umstehenden Schüler, die ebenfalls in den Himmel schauten und verzweifelt nach dem verborgenen Witz in dieser Wolke suchten, reagierten völlig verständnislos. Was sie sahen, war eine ganz normale Wolke und sie fanden sie keineswegs witzig.
weiter im advaitaJournal Vol.6, S.18 ff.
Auszug aus: advaitaJournal Vol. 6 , Frühjahr/Sommer 2002, Seite 18ff.
advaitaJournal Vol. 06
Der heilige Narr
Magazin, 76 Seiten, advaitaMedia 2002
Themenschwerpunkt dieser Ausgabe ist die spirituelle Dimension der Figur des Narren. Humorvoll (dem Leser) auf der Nase herumtanzend, in der ihm eigenen widersprüchlichen Art, verweist der heilige Narr auf die Begrenzungen des denkenden Geistes, zielt auf die Lügen des argumentierenden Verstandes, auf das Gespalten-Sein der Vernunft. Das ist heilig, heilend, heil im Sinne von ganz.